Text aus dem Ausstellungskatalog "Recuerdos Vivos" zur gleichnamigen Ausstellung

der ZF-Kunststiftung im Zeppelinmuseum Friedrichshafen, 2006

 

 

Regina Michel

RECUERDOS VIVOS - LEBENDIGE ERINNERUNG

 

 

Erinnerung ist ein zentraler Parameter menschlicher Existenz. Erinne­rung ist notwendig, um ein Bewusstsein für das eigene Ich zu ent­wickeln. Jedes ,Ich‘ ist verknüpft mit einem ,Wir‘, von dem es wichtige Grundlagen der eigenen Identität bezieht. Jeder Mensch wird in eine Familie, eine Generation, eine Nation, eine Kultur hineingeboren und teilt Erinnerungen mit diesen verschiedenen Gemeinschaften. Die privaten Erinnerungen sind eingebettet in ein kulturelles Gedächtnis.

 

 

Spurensicherung

In einer immer komplexer werdenden Welt spielt die Frage nach der kulturellen Identität eine immer größere Rolle. In der Kunst der Gegen­wart hat das Phänomen Erinnerung daher einen zentralen Stellenwert: Ende 2000 waren u.a. Arbeiten von Gerhard Richter, Jochen Gerz, Sigrid Sigurdsson, Anne und Patrick Poirier in der Ausstellung ,Das Gedächtnis der Kunst‘ im Historischen Museum und in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt zu sehen. 2006 beleuchtete das Kunstmuseum Wolfsburg die Bedeutung von Erinnerung im Zeitalter digitaler Datenspeicher und beschleunigter Medienkommunikation unter dem Titel ,Spurensuche. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst‘ anhand ausgesuchter Positionen von Christian Boltanski, Douglas Gordon, Paul Graham, Anselm Kiefer, Jörg Immendorf, Luc Tuymans, Anette Messanger und Sophie Calle. Im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt war die Ausstellung ,Der Souvenir – Erinnerung in Dingen von der Reliquie bis zum Andenken‘ Erinnerungsstücken gewidmet. Ende 2006 gibt die Ausstellung ,Zeit‘ in der Mathildenhöhe in Darmstadt einen Überblick über die Gedächtnisarbeit im Werk von Christian Boltanski. 

Erinnerung in der Kunst der Gegenwart ist mehr als eine Dokumen­tation historischer Ereignisse, die sinnliche Reaktivierung der Ver­gangenheit in der Gegenwart steht im Zentrum. Einige Künstler zitieren in ihren Kunstwerken Orte, in denen Erinnerung gespeichert wird: das Archiv, die Bibliothek, das Museum oder das Denkmal. Andere stellen das Sammeln, Archivieren, die Spurensicherung in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Häufig zielt die künstlerische Auseinandersetzung mit Geschichte auf eine kollektiv erfahrene Vergangenheit. Das Verschmelzen von individueller Lebnesgeschichte - und der Wunsch, diese dem Rezipienten neu ins Gedächtnis zu rufen - bestimmen viele der Kunstwerke.

 

 

Vernetzte Zeit


"Sobals ein bereits gehörtes Geräusch, ein schon vormals

geatmeter Duft von neuem wahrgenommen wird,

und zwar als ein gleichzeitiges Gegenwärtiges und

Vergangenes, ein Wirkliches, das gleichwohl nicht

dem Augenblick angehört, ein Ideelles, das

deswegen dennoch nicht Abstraktes bleibt, wird

auf der Stelle die ständig vorhandene, aber gewöhnlich

verborgene Wesenssubstanz aller Dinge frei..."

                                        (Marcel Proust)1

 

Erinnerung geschieht in der Gegenwart. Ein Geruch, ein Geschmack, ein Ton, ein Bild oder ein altes Kleidungsstück können Auslöser für die Zeitreise sein, lassen vor dem inneren Auge eine längst vergangene Situation, einen längst vergessenen Ort Gestalt annehmen. Gegen­stände, symbolisch aufgeladen mit Erinnerung, sind die bevorzugten Ausgangsmaterialien für künstlerische Interventionen: Fotografien, Kleidungstücke, Gegenstände des alltäglichen Lebens, Briefe und immer wieder Fotografien. Die enorme suggestive Kraft, die gerade Familien­fotos innewohnt, hat der Gedächtnisforscher Daniel L. Schacter auf den Punkt gebracht: „Viele Menschen verstehen unter Erinnerung noch immer eine Reihe von Familienbildern, die in einem inneren Album aufbewahrt werden. Doch inzwischen wissen wir, daß wir keine wert­freien Schnappschüsse früherer Erinnerungen speichern, sondern auch die Bedeutung, die Empfindungen und Gefühle aufbewahren, die uns diese Erlebnisse vermittelt haben“(2). Pressefotos vor allem aber Fotos aus dem eigenen oder aus fremden Familienalben, in denen die Höhe- und Wendepunkte eines menschlichen Lebens im Bild festgehalten sind, kommen zum Einsatz, um Erinnerung zu aktivieren. Für viele Künstler ist die Aufarbeitung der eigenen Geschichte – insbesondere der eigenen Kindheit – Ausgangspunkt für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Erinnerung. Zu ihnen gehört auch der 1969 in Sevilla geborene Künstler Antonio Velasco Muñoz. 

 

 

Erinnern im Malen


„Para conjurar la nostalgia, algunos inmigrantes

traen de su tierra algo que les resulta

especialmente querido: un retrata, un mantón, fotos...

O el olivio que la española plantó en el fondo de su casa,

en el cuento ,Don Paulino‘ de Marita Minellono.“3 

 

Das Foto oder die Locke in der Brieftasche, der Babyschuh im Auto – viele Menschen sammeln Erinnerungsstücke, tragen ein Stück Heimat mit sich. Besondere Bedeutung erhalten diese Zeugnisse der eigenen Identität, wenn ein Mensch seine Heimat verlässt. Auch für Antonio Velasco Muñoz erhält die Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln, die Vergewisserung der eigenen Identität, eine ganz neue Bedeutung, als er 1998 nach Bremen übersiedelt. Erinnerung ist seither das zentrale Thema im Werk des in Sevilla aufgewachsenen Künstlers. Seine Inspira­tionsquelle sind die Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem Familien­album. Er verwendet die Familienfotos nicht direkt als Material für seine Installationen, er übersetzt die Fotografien zunächst in Malerei. Bei jedem Pinselstrich erinnert er sich neu, stillt so die Sehnsucht nach der Familie und der andalusischen Heimat – in der er tief verwurzelt ist. 

 

Antonio Velasco Muñoz arbeitet in abgeschlossenen Zyklen: Er malt die eigene Taufe, die Kommunion der Schwester, einen Sonntags-Spazier­gang im Park, den Urlaub am Meer, die Mitschüler im ersten Schuljahr. Während des Malens erweckt er die Momentaufnahmen aus der Vergan­genheit zu neuem Leben, lässt sie mit schnellem, sicherem Pinselstrich neu entstehen. Die Gemälde sind reduziert, vereinfacht. Gerade die großformatigen Schlüsselarbeiten wirken oft skizzenhaft. Details interessieren den Künstler nicht. Der Gesichtsausdruck der Schwester oder der Mutter, das helle Licht und die tiefen Schatten eines süd­spanischen Sommertags sind dem Künstler wichtig. 

 

Unzählige, differenzierte Nuancen von Schwarz-, Grau- und Weißtönen verleihen der Malerei enorme Ausdruckskraft. Das satte Schwarz der Kohle scheint das Licht in den tiefen Schatten förmlich zu verschlucken. Warme, graue Schatten akzentuieren das Cremefarbene, scheinbar ver­gilbte Weiß des Kommunionkleids, wecken Assoziationen an gealterte Spitze. Das leuchtende Weiß einer Pastellkreide lässt das Sommerkleid der Mutter in einem der Strandbilder in der gleißenden Sonne strahlen. Die Gemälde fangen das dramatische Licht Andalusiens ein, spiegeln Stimmungen und Gefühle wider. 

 

 

Zeitspuren

Die zentralen Schlüsselbilder eines Zyklus verlangen das Großformat und einen besonderen Malgrund. Lebensgroß tritt die Schwester dem Betrachter in dem Gemälde ,En la puerta del patio‘ entgegen. Mit Acryl und Kohle hat der Künstler ihr Bild auf die leinwandbeschichtete Rückseite einer über zwei Meter hohen, ausrangierten Schullandkarte gemalt. Auch die Arbeiten, die die Familie am Strand zeigen, haben einen ungewöhnlichen Malgrund, sie sind auf die Rückseite von etwas kleineren Wandkarten aus dem Biologieunterricht gemalt. Die aus­rangierten Land- und Wandkarten aus Schulbeständen sind vergilbt, verknittert und immer wieder geflickt. Sie sind als Malgrund für die Gedächtnisbilder geradezu ideal. Durch die Knitterfalten des Malgrunds erinnern die großformatigen Gemälde wieder an alte Schwarz-Weiß-Fotografien – jahrelang in der Brieftasche getragen, unzählige Male hervorgeholt, herumgezeigt und immer wieder angeschaut. Die Land­karten – Relikte aus deutschen Schulen sind nicht nur „Malgrund mit Geschichte“ sie verbinden die Vergangenheit, die Heimat in Spanien, mit der Gegenwart, der Existenz in Deutschland. Großformatig stellt der Künstler die eigene Kindheit öffentlich zur Diskussion und führt dem Betrachter so typische Höhe- und Wendepunkte einer spanischen Kind­heit in den 70er Jahren exemplarisch vor Augen und leistet so in seiner Arbeit auch einen Beitrag zum interkulturellen Diskurs in einem zusammenwachsenden Europa.

 

 

Zeitzeugen


"Für mich sind Kleider ganz stark verbunden mit der Photographie

– ein Bekleidungsstück ist wie die Photographie ein Objekt

der Erinnerung an ein Subjekt. Da ist der Geruch, da sind die Falten,

das ist wie eine Hohlform ..."                (Christian Boltanski)4 

 

Die Pflege von Erinnerung hat Tradition in der Familie von Antonio Velasco Muñoz. Das Taufkleid wird seit Generationen in der Familie weitergegeben, bezeugt so gleichsam eine Initiation, den feierlichen Eintritt in die Familie. Das Kommunionkleid der Schwester – ebenfalls ein Symbol einer Initiation, der Aufnahme in die katholische Kirche – wird mit Schleier, Gebetbuch und Handschuhen sorgfältig aufbewahrt. Aber auch ganz alltägliche Kleidungsstücke, den – Kinderanzug, die Badehose oder den Schulkittel des kleinen Antonio – bewahrt die Mutter sorgfältig auf. 

 

Die Präsentation der Gemälde spielt im Werk von Antonio Velasco Muñoz eine zentrale Rolle. Er bedient sich aus dem Familienfundus an Erinnungsstücken und konfrontiert die Gemälde in seinen Installa­tionen immer wieder neu mit originalen Kleidungsstücken, die auf den Fotos und Gemälden zu sehen sind. Wie Fotografien sind Kleidungs­stücke ein ausgezeichnetes Vehikel, um die Erinnerung an einen Menschen in die Gegenwart zu transportiert. So wirkt das Kommunion-kleid in der Installation ,En Sevilla a 21 de Mayo de 1972‘ wie eine Larve, als sei die Schwester gerade aus dem Kleid herausgeschlüpft. 

 

Das Werk von Antonio Velasco Muñoz ist vielschichtig. Er beleuchtet das Phänomen Erinnerung von verschiedenen Seiten, vernetzt Vergangen­heit und Gegenwart auf mehreren Ebenen: Die Dimension ,Zeit‘ wird sinnlich erfahrbar. Trotz der sorgfältigen Konservierung hat die Zeit Spuren hinterlassen, die Kleidungsstücke sichtbar gealtert. Gleichzeitig fungieren die Kleidungsstücke als stumme ,Zeitzeugen‘, bezeugen die Erinnerung und dienen so gleichsam zur deren Vergewisserung. Nicht zuletzt konfrontiert Antonio Velasco Muñoz die eigene, reaktivierte Erinnerung und die ,stummen Zeitzeugen‘ mit den Erinnerungen realer Zeitzeugen: Er hat Mutter und Vater, Tanten und Onkel nach ihren Erinnerungen befragt und im Video festgehalteen.

 

"Man sieht nicht, man erkennt wieder.

Als kleine Kinder werden wir mit Bildern aufgeladen,

und dann erkennt man einen Strand wieder

in Bezug auf den ersten Strand, den man gesehen hat.

... Die tatsächlich interessanten Autobiographien

sind die, die nicht vom Autor sprechen, sondern

von jedem Leser..."           (Christian Boltanski)4 

 

Die enorme, geschichtsträchtige Präsenz der großformatigen Gemälde und die emotionsgeladene Präsentation wecken beim Betrachter aber auch ganz persönliche Assoziationen, evozieren Bilder der eigenen Kindheit. Die ,Lebendige Erinnerung‘ von Antonio Velasco Muñoz kann so zum Auslöser von Selbstreflexion und Vergewisserung der kulturellen Identität im interkulturellen Diskurs werden. 

 

 

 

 

 

1 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt am Main, 1976

2 Daniel L. Schacter, Wir sind Erinnerung, Gedächtnis und Persönlichkeit, Hamburg, 1999

3 Marita Minellono, Don Paulino, in: Reunión, Buenos Aires, Corrigidor, 1992

4 Doris von Drathen, Der Clown als schlechter Prediger. Interview mit Christian Boltanski, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.), Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegen­wartskunst, Leipzig, 1996